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private viewing
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10.10.2020


PRIVATE VIEWING 08 widmet sich der Aneignung literarischer Imaginationen, um so einige Verschiebungen künstlerisch sichtbar zu machen, die sich auch auf die “final frontiers” (Melville) menschlicher Wahrnehmung und Erfahrung auswirken.




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Gerald Nestler, derivate bond emission no 10, Foto © T.K.                         Toni Kleinlercher, mohn und gedächtnis, Foto © T. K.


gerald nestler

derivate bond emission no 10


Gerald Nestlers künstlerische Expertise zur datengetrieben derivate condition verwandelt sich dafür in poetische Nahrung. Nach einem Rezept von Herman Melville knetet er sich ein mythisches Satzgefüge, dessen neue Substanz die Besucher*innen eingeladen sind, sich einzuverleiben.

In diesem künstlerischen Akt materialisiert sich auf metaphorische Weise eine Zeitenwende: Ein neues Paradigma der Weltaneignung—das sich insbesondere im Übergang vom räumlichen Expansionsdrang zur Kolonisierung von Zeit zeigt—spiegelt sich in Nestlers Umschreibung einer Passage aus Melvilles Roman Moby Dick. Das Originalzitat—"As for me, I am tormented with an everlasting itch for things remote. I love to sail forbidden seas, and land on barbarous coasts”—, literarisch den äußersten Rand des bekannten Welt-Raums vermessend, wird so zu einem Fanal technologisch unterstützter Überschreitungen und Asymmetrien: As for me, I am tormented with an everlasting itch for things random. I love to sail dark pools, and live off crude debts.

Zugrunde liegt diesen Eskalationen, die sich in Mikrosekunden ereignen (und damit jenseits menschlicher Wahrnehmungschwellen), eine Verschiebung von repräsentativer zu performativer Sprache der Macht. Die extremen Volatiläten, die wie eine stürmische See über politische, juristische wie individuelle Körper hereinbrechen, zeitigen nicht nur eine schwere Krise demokratiepolitischer Legitimität und Transparenz. Es verkörpern sich in ihnen auch die Abgründe einer (Selbst)Kolonisierung, die heute in allen vernetzten Teilen der Welt grassiert und durch die wir selbst zur Ressource des Systems und seiner Einverleibungs- und Ausscheidungszwänge werden. Nestlers ironische Geste verwandelt diese "bittere Pille” unter Mitwirkung der Besucher*innen in eine verdaulichere Form: sie wird zum Genuss, zu geistiger und körperlicher Nahrung.



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Gerald Nestler, derivate bond emission no 10, Foto © T.K. 


toni kleinlercher

mohn und gedächtnis


Toni Kleinlercher hat den Anstoß gegeben, sich in diesem Ausstellungsdialog auf die literarische Bühne zu begeben. Das Unausweichliche des Jahres 2020 zum Anlass nehmend, hat Kleinlercher Paul Celans Gedicht „Corona“ in einer Wandinstallation inklusive Video thematisiert.

Das Corona-Virus ist nicht Inhalt der Auseinandersetzung, aber der geradezu manisch anmutende epische Umgang damit, hat Kleinlercher veranlasst, das Gedicht „Corona“ und in der weiteren Folge die Gedichtsammlung „Mohn und Gedächtnis“ als Quelle der vorliegenden Arbeit zu verwenden. Kunst und Poesie gehen hier eine Verschränkung ein, die im Gegensatz zu Anselm Kiefers gleichnamiger Werkserie „Mohn und Gedächtnis“ keine geschichtlichen und mythischen Zusammenhänge erzählt, sondern versucht, ein Szenarium zu evozieren, indem die Zeit für einen Moment still stehen kann. Bekannterweise ist das Gedicht „Corona“ an Ingeborg Bachmann adressiert, die Corona, die um den Umriss dieser sich in einem Fenster umarmenden Liebenden sichtbar gemacht wird, bekräftigt die Möglichkeit der Liebe. Celans Gedicht geht auch über seine besondere Zeit und seinen besonderen Ort hinaus. Die Liebe ist zu jeder Zeit, in verschiedenen Erscheinungsformen und Graden, mit den gleichen Gefahren konfrontiert. In "Corona" spiegelt sich die Hoffnung jedes Liebenden wider, dass die Liebe mehr als peripher, trügerisch und unsichtbar sein kann. In einer solchen Welt können wir dann wirklich anfangen zu leben.

Die auf gebrauchte Leinwandstreifen aufgestempelten Buchstaben tragen eine Leichtigkeit, die Patina der Vergänglichkeit in sich, sind unpräzise, wie hingehaucht. Nicht das gesamte Gedicht ist sichtbar ausgelegt, fehlende Satzteile machen die Brüche sichtbar, im Leben wie in der Liebe. Quasi überschrieben von kleinformatigen Blättern aus der „beyond ikebana“ Werkserie des Künstlers, Mohn-Arbeiten, entstanden während der Lockdownzeit im April dieses Jahres. In einer Weiterentwicklung, der mittlerweile über mehrere Jahre andauernden Blumenserie, hat sich Kleinlercher die alte japanische nature print Technik „Gyotaku“ angeeignet, um sie in seinen aktuellen Blumenarbeiten anzuwenden. Das zusätzliche kontrollierte Zulassen von Schimmel auf den Blättern lässt eine einzigartige Aura in der ästhetischen Wahrnehmung entstehen, etwas anzüglich Morbides, das im Zusammenhang mit dem Corona-Video, welches sich aus Aufnahmen der Sonnenfinsterniss 1999 zusammensetzt, dem gesamten Installations-Ensemble die Vergänglichkeit alles Seienden vor Augen führt.



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Toni Kleinlercher, mohn und gedächtnis, Foto © T.K.


keynote: mitsuku aka kuki


Anstatt einer kunsttheoretischen Einführung zur Ausstellung haben sich Kleinlercher und Nestler für einen quasi-literarischen chatbox slam mit einer künstlichen Intelligenz entschieden. Ihr Name, KUKI, verweist in seiner englischen Aussprache wiederum auf die Verwandlung von geistiger und emotioneller in körperliche Nahrung, die PRIVATE VIEWING 08 für die Besucher*innen ausrollt.    

kuki kuki

kuki
www.toni-kleinlercher.com