<
private viewing
06
01.08.2020
Christoph Luger + Toni Kleinlercher
Die Wirklichkeit der Schichten
Zeitlos ist die Kunst. In sie vertiefen sich die Bilder des Naturhistorischen Museums von New York oder Edingburgh, fotografiert in den 1990er-Jahren von Toni Kleinlercher und von demselben wie römische Wandmalereien, verlorene und als Fragment wiedergefundene antike Tierdarstellungen in eine neue Wirklichkeit gesetzt, in der das freigelegte Bruchstück ebenso die eigentliche Form ist wie die verschiedenen Farbaufträge und Papierklebungen in den Bildern Christoph Lugers, die tatsächlich den Eindruck von Fresken erzeugen, die genauso wenig zufällig, vielmehr in einem Akt künstlerischer Intervention freigelegt wurden.
(Gerhard Zeillinger)
Christoph Luger, ohne titel, Foto © T.K. Christoph Luger, ohne titel, Foto © T.K.
Toni Kleinlercher, enlightened, Foto © T.K. Toni Kleinlercher, enlightened, Foto © T.K.
Essay zur Ausstellung PRIVATE VIEWING 06 von Gerhard Zeilinger
Die Wirklichkeit der Schichten
Zu Christoph Lugers und Toni Kleinlerchers korrespondierenden Arbeiten
Man kratzt etwas weg und etwas kommt darunter zum Vorschein. Das ist in der Wissenschaft, in der Kulturgeschichte die Tätigkeit eines Archäologen, eines Historikers. Historiker waren früher Erzähler, man denke an Herodot, mit dem die Geschichtsschreibung anfängt – er war ein begnadeter Geschichtenerzähler. Auch Maler erzählen, ich glaube, sie erzählen sogar viel mehr, als sie abbilden und zeigen. Nur erzählen sie nicht das Alte, was ja auch nicht ihre Aufgabe wäre, sie lassen ganz konsequent und ganz ungefragt Neues entstehen. Aber kann es das Neue geben, ohne dass etwas vorher war, ohne dass es eine Schicht darunter gibt? Eine gedankliche Schicht oder eine gemalte wie die eines übertünchten Freskos. Manchmal wird das Neue erst zur Avantgarde, wenn es den Prozess davor in den Entstehungsprozess des Neuen einbezieht. Wie neu, wie modern ist diese Wand hier mit den Spuren des Alten darunter? Wie neu sind die Bilder auf der anderen Seite, die eine Bearbeitung alter Fotos aus den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts darstellen? Und wie neu die Bilder auf dieser Seite, freskohafte Papierarbeiten auf einer freskohaften Wand, die die Formensprache des Mittelalters zitiert, auch wenn es nur zwanzigstes Jahrhundert ist und darauf Bilder des Heutigen zu sehen sind? (Auch das hat mit Erzählen, mit dem Epischen der Malerei zu tun.)
In beiden Fällen bestimmen die Schichten den „Mehrwert“ der Kunst. Etwas ist schon vorher dagewesen, ein Bild, ein Zeichen, das von der Zeit lautlos übermalt, überdeckt wurde, das dennoch unvergänglich blieb; es wurde zeitlos. Zeitlos ist die Kunst. In sie vertiefen sich die Bilder des Naturhistorischen Museums von New York oder Edingburgh, fotografiert in den 1990er-Jahren von Toni Kleinlercher und von demselben wie römische Wandmalereien, verlorene und als Fragment wiedergefundene antike Tierdarstellungen in eine neue Wirklichkeit gesetzt, in der das freigelegte Bruchstück ebenso die eigentliche Form ist wie die verschiedenen Farbaufträge und Papierklebungen in den Bildern Christoph Lugers, die tatsächlich den Eindruck von Fresken erzeugen, die genauso wenig zufällig, vielmehr in einem Akt künstlerischer Intervention freigelegt wurden.
Christophs Papierarbeiten leben vom Wegreißen, Weggeben, neu Hinzufügen, Collagieren, Wiederverarbeiten, dem ständigen Auftragen und Entfernen von Papierschichten und Farbschichten. Das ist bei Tonis Arbeiten nicht anders. Man fragt: Was bergen die Bilder in sich, was verbergen sie, was kommt unter ihnen, unter ihrer Haut zum Vorschein, wenn man an ihr kratzt? Hat das mit Tiefenpsychologie zu tun? Treten hier Schichten des Unbewussten in Erscheinung? So weit muss man gar nicht gehen, Freud ist in der Kunst schon genug bemüht worden. Auch Kinder zerschneiden gern und kleben zusammen, neue Wirklichkeiten entstehen, nicht aus der Sphäre des Unbewussten und Mehrdeutigen, sondern einfach aus Lust, etwas zu produzieren, zu verändern, und ist das nicht dieselbe Lust des Künstlers, nämlich etwas zu erschaffen, wofür man früher einmal den Begriff „schön“ verwendet hat? Für diesen Begriff gilt es übrigens dringend eine Rettungsaktion zu starten, erst recht, wenn die Schönheit im Unvollkommenen zu sich kommt, im Fragmentieren und Dekodieren, um dann wie auf der Festplatte eines PCs den Prozess des Defragmentierens in Gang zu setzen – und nie setzt sich das Zertrennte, Zerschnittene, Aufgelöste wieder so zusammen, wie es einmal war, es ist jedes Mal ein neuer Versuch, es entstehen jedes Mal neue Schichten, es entsteht jedes Mal ein neues Bild, von dem man nie wissen kann, ob es das richtige, das gültige ist, und fast möchte man sagen: Ist das nicht schön? Ein täglicher Weltschöpfungsakt, so fängt es immer an, und vielleicht darf man sich am siebenten Tag dann ja ausruhen, aber nur an diesem Tag, denn am achten beginnt es wieder von neuem, weil es weitergehen muss: das Zersetzen und neu Zusammenfügen, weil es immer, also im Wochenrhythmus, eine neue Welt braucht: So wie sich Christoph Luger einmal dafür verschrieben hat, jede Woche ein neues Bild zu malen, Papierbahnen zusammenzufügen. „Wochenbilder“ heißen seine Arbeiten, so simpel, so einfach.
Toni Kleinlercher, den mit Christoph nicht nur das Asiatische, dieses scheinbar Papierleichte, sondern auch die Disziplinierung verbindet, hat sich ebenfalls einem konsequenten Verändern, Verformen verschrieben, und sei es nur die Oberfläche einer Fotografie wegzukratzen oder nur daran zu kratzen und tief ins Unsichtbare einzudringen, in eine Schicht, die an ihrer Oberfläche wie ein blinder Spiegel wirkt – man sieht ja immer etwas, aber etwas plötzlich anderes, und wenn da nur ein weißer Papierfleck sichtbar wird, so macht dieses Weiß, dieses Unbeschriebene und Unentschiedene immer das darunter liegende Bild sichtbar, wie ein der bisher unentdeckten Schicht eingeschriebenes Zeichen. Etwas ist immer da, es muss ja vorher etwas gewesen sein: von nichts kommt nichts (der Ursatz der Physik und erst recht der Kunst!), damit der Betrachter nachher etwas sehen kann, also wir. Denn die Welt fängt ja auch nicht irgendwo an, sie beginnt in demselben Nirgendwo, in dem auch die Kunst zu sich kommt, jene Kunst, die immer schon war, weil es ja gar nicht anders sein kann. Und ist es nicht eine schöne Herausforderung, dem Betrachter ans Auge zu legen: Da war noch etwas und da ist noch etwas, schau nur genau hin? Zwar ist es immer noch der Künstler, der abkratzt und Schichten freilegt und sichtbar macht, aber es ist das Auge des Betrachters, das die freigelegten Schichten sehen und durchdringen muss, das ist seine Aufgabe. Und sein Wahrnehmungsprozess ist der diametrale Prozess zur Entstehung. Und am Ende, wenn gleichsam schon alles ausprobiert ist, können die Schichten einer Malerei zu Buchseiten werden. Dann kann der Betrachter auch noch im Entstehungsprozess blättern und die Wirklichkeiten einer Malerei (oder schon eines Buches?) durchblättern.
Und also treibt der Maler sein doppeltes Spiel, er steigert es noch, indem er eine weitere Ebene erschafft: legt einfach seine Blätter auf einen Tisch, eins auf das andere, bindet sie zu einem Buch, als wäre er nicht nur Maler, sondern Büchermacher und Buchbinder, und schon wieder ist eine neue Welt entstanden, eine, in der man sogar nach vor und zurück blättern, gleichsam zeitlos darin spazieren kann. So wie auf den Fotoarbeiten Toni Kleinlerchers die Wirklichkeitsebenen einander durchdringen und der Blick durch ihre Schichten fällt: auf die dem ursprünglichen Bild aufgemalte, die darunter freigelegte … (Aber was ist das Ursprüngliche und was das Darunter?) Die Dimensionen geraten einem förmlich hin und her und setzen sich wie in einem Kaleidoskop zu Neubildern zusammen. War das einmal ein Nashorn, Zebra, ein Löwe, und was ist es jetzt? Eine Giraffe, ein Wolkenkratzer? War es wirklich das, was es einmal war? Ist es das, was es jetzt ist? Hat das Foto tatsächlich diese Wirklichkeit abgebildet? Sind das überhaupt noch Fotos? Und ist das, was da auf dem Tisch liegt, wirklich ein Buch?
Installation view, private viewing 06, Foto © T.K.
www.toni-kleinlercher.com