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Explizit materiell: „Beyond Ikebana“

Thomas Raab


Das Wort „graphic“ bedeutet im Englischen laut SOED erst seit dem 17. Jahrhundert
sowohl das, was es im Deutschen auch bedeutet, namentlich vom Griechischen
gráphein (ritzen, schreiben) abgeleitet „zeichnerisch“, aber auch metaphorisch so
etwas wie „drastisch“ oder „plastisch“ im Sinn von explizit Spuren von Brutalität
tragend, ans Tabu des Ekels vor Verletzungen oder bspw. auch Leichen anstoßend. Wo
bei Liedtexten gewarnt wird, sie seien „explicit“, wird bei Bildern gewarnt, sie seien
„graphic“.
Toni Kleinlercher zeigt hier zwei Werkserien, auf die sowohl die wörtliche als auch die
metaphorische Bedeutung von „graphic“ zutreffen. „Beyond Ikebana“ besteht aus
entweder selbst gezüchteten oder, wie im Falle der weißen Lilien, im Laden
erworbenen Blumen, die in einem Zug mit einer Rolle auf Papier gepresst werden.
Dabei entstehen aus den austretenden organischen Säften Flecken, die auch an
Körperflüssigkeiten oder Reliquien wie das Schweißtuch von Oviedo erinnern, von
dem es forensisch explizit und also „graphic“ im metaphorischen Sinn heißt: „Es lag
über dem Kopf eines erwachsenen Mannes, dessen Mund geschlossen und dessen Nase
zerquetscht war“ (Wikipedia). Ebenso zerquetscht sind auch ganze Blüten auf
Kleinlerches Bildern, wenngleich sie erstaunlicherweise nicht nur von weiter weg,
sondern auch aus der Nähe wie gezeichnet und also graphisch wiederum im
buchstäblichen Sinn wirken.
Graphisch im Sinne von brutal ist diese Serie also durch den Herstellungsprozess, im
Zuge dessen die Blumen mit der Gewalt des Künstlers „getötet“ werden. Nun ist dieses
Töten indes nicht willkürlich. Kleinlercher wendet die buchstäbliche, aber zugleich
auch symbolische Gewalt wie ein Kalligraph an. Er wählt die Blumen aus, welche Teile
verwendet werden sollen, wie fest die Quetschung sein soll. Und nicht jede
zerquetschte Blüte entspricht unbedingt seinen Vorstellungen eines gelungenen
Werks. Dazu passt auch, dass der Künstler zwar nicht den Blumenweg der Zen-
Versenkung „Ikebana“, dafür aber neben „Shodo“, dem Kalligraphieweg, und auch den
Weg des Bogenschützens „Kyudo“ ausübt.
Kleinlerchers Bilder sind, eingedenk ihrer materiellen Sparsamkeit und der
Schnelligkeit der Herstellung, in der Tat hingeschossen und „minimalistisch“. Ihre
Schönheit kommt indes auch von der Vorbereitung, der Bildidee und der Tatsache,
dass eben nur er als Individuum mit, zum Beispiel, einer Vorgeschichte als „Sprayer
von Tirol“, der Graffiti ungesetzlich auf Felswänden im Gebirge anbrachte, sie
herstellen konnte. Dazu das Gleichnis vom Kaiser, der eine Zeichnung von einem Hahn
haben wollte:
„Der Kaiser von China hörte von einem großen Künstler, der sich auf grandiose
Tuschzeichnungen von Vögeln verstand. Er ließ ihn kommen und befahl ihm, einen
Hahn zu zeichnen, denn der Kaiser liebte Hähne über alles. Der Künstler ließ über ein
Jahr nichts von sich hören. Da schickte der Kaiser nach ihm, seine Gesandten aber
wurden vertröstet. Es ginge noch einige Zeit, ließ der Künstler ausrichten. So geschah
es auch im zweiten Jahr. Nach drei Jahren aber verlor der Kaiser die Geduld und
erschien mit seinem Tross vor dem Haus des Künstlers. Dieser führte ihn hinein, nahm
vor den Augen des Kaisers ein großes Blatt und zeichnete mit wenigen kühnen Strichen
einen prachtvollen Hahn. Der Kaiser war begeistert, doch entrüstete er sich über den
hohen Preis. ‚Wie kannst du so viel Geld fordern für eine Zeichnung, die du in wenigen
Augenblicken vor meinen Augen auf das Papier wirfst?’, fragte er. Ohne ein Wort führte
ihn der Künstler in einen großen Raum, der voller Skizzen von Flügeln, Schnäbeln und
Köpfen von Hähnen hing. In einem zweiten Raum fanden sich Hunderte von Blättern
mit Hähnen, und in einem dritten Raum waren die Wände voll von Zeichnungen mit
Hähnen, die auf dem Mist kratzten, mit Nebenbuhlern kämpften, Körner pickten oder
den Morgen mit ihrem Krähen ankündigten. Hähne in jeder Bewegung und in jeder
Position. ‚Siehst du’, sagte der Künstler, ‚die Zeichnung, die dir so mühelos hingeworfen
schien, hat mich drei Jahre Arbeit gekostet. Drei Jahre, die ich mit harter Arbeit
verbracht habe, um dir in wenigen Augenblicken einen Hahn zeichnen zu können’.“
(leicht verändert von
http://www.persens.com/qg/uploads/article_pdfs/Index_201201_30-31.pdf)
Als schön empfinde ich besonders, dass bei aller grafischen Qualität die Bilder auch
unfertig wirken, als hafte ihnen eine Patina an. Das wiederum entspricht einem
ästhetischen Konzept in Japan namens „Wabi-Sabi“, das das Unfertige, das
Impermanente ins Zentrum des, wenn auch als unspektakulär konzipierten „Schönen“
stellt.
Ebenso „graphic“ im buchstäblichen wie im metaphorischen Sinn ist Kleinlerchers neue
Serie, die „Madonnenlilienbilder“. Die Lilie gilt, von der griechischen Mythologie
heraufkommend, als Blume der Unschuld und Reinheit, abgeleitet aus verschütteten
Tropfen der Milch aus den Brüsten Heras, als Herkules von ihnen trank. Als solches
Symbol wurde sie auch in die christliche Ikonographie übernommen, wobei indes
meist die Blütenstempel, wohl ob ihrer ungünstigen sexuellen Konnotationen,
weggelassen oder verkleinert dargestellt wurden. Kleinlercher korrigiert dies, indem
er Gemälde aus dem kunsthistorischen Kanon weltlicher wie sakraler Linie mit dem
Computer insofern korrigiert, als er diese Stempel, z.T. hypertrophiert ergänzt.
Triebhafte Anteile des Unbewussten werden durch seinen minimalen Eingriff
gleichsam ins Bild geholt, allerdings nur versteckt –wenn man es weiß oder, wie Sie
jetzt, darauf hingewiesen wird. Das triebhaft Brutale ist Teil von uns, unseres
biologischen Aufbaus. So betrachtet, weist uns der Künstler hin, sind wir vor uns selbst
niemals sicher, so „heilig“ können wir als Menschen nicht werden. Sozial verträglich zu
sein und zu bleiben erfordert permanente Aufmerksamkeit.
Anders als die Enthaltsamkeit durch – z.B. klösterliche – Vorschriften zielt
dementsprechend der Weg der Zen-buddhistischen Übung, dem Kleinlercher nicht nur
mit dem Bogen und mit Blumen, sondern auch in täglicher Meditation folgt, auf das
Explizit-machen der eigenen Begierden und ihrer „Abkömmlinge“ im Bewusstsein, wie
es Anna Freud nennt. Erst wenn wir akzeptieren lernen, dass unsere Triebe in ihrer
Rohheit unbewusst wirken, und selbst wenn wir sie mit zahlreichen „sozial
verträglichen“ Motiven wie „Arbeit“, „Umsicht“, „Leistung“ oder auch „Empathie“
kanalisieren, dennoch unser Antrieb bleiben, können wir versuchen ethisch zu
handeln. Triebe werden in der Zen-Praxis nicht verdrängt, sondern in ihren
Kausalbeziehungen analysiert, sodass wir ihre Wirkungen möglichst bewusst erleben.
Da letztere aber in einem sozialen und ökologischen Rahmen wirken, den wir schlicht
aus Mangel an Information nie vollständig verstehen werden, sind Triebe als solche
immer sozial ambivalent, können zerstörerisch oder kreativ wirken, sind also weder
„gut“ noch „schlecht“. Es gibt keine Erlösung (S. Batchelor, After Buddhism, Kap. 3). In
Zen-Redeweise: Begierden sind, wie jede Ordnung, die wir in der Welt erkennen, an
sich „leer“. In diesem Sinn heißt es im am meisten verdichteten Sutra des Mahayana:
"was immer Form ist, das ist Leerheit, was immer Leerheit ist, das ist Form".
Kleinlercher formiert diese Leere durch psychologische Deflation. Seine Bilder sind
minimal, was die Bildideen betrifft, mit der er nicht nur den Zen-buddhistischen
Blumenweg „Kado“, sondern auch die jüngere japanische Kunstgeschichte,
beispielsweise der Gutai-Künster fortschreibt, die bereits in den Fünfzigerjahren auf
die Abbildungsfunktion ihrer Kunst zugunsten ihres direkten materiellen und damit
vergänglichen Aspekts verzichten wollten (s. Jiro Yoshiharas Gutai-Manifest). Außer
dem schieren Willen zum Werk tragen Kleinlerchers Werke daher ebenso wie Gutai-
Werke kaum Spuren der willentlichen Gestaltung. Denn auch die sexuelle und
„graphische“ Gewalt, die den Blumen durch Tötung auf dem Blatt Papier oder explizite
Darstellung penisartiger Formen zuteil wird, ist letztlich unpersönlich. Sie folgt, wie
alles, einer endlosen Kette von Ursachen und Wirkungen. Indem Kleinlercher aber die
Triebhaftigkeit künstlerisch thematisiert, wird er sich über sie klarer. Sie wird zu Kunst
sublimiert, Teil eines sozialen Austauschs auf einer Ebene, die das Verdrängte in die
Verhandlung mit einbezieht.
Auch wenn es auf den ersten Blick „graphisch“ wirken mag.



© 2017 Toni Kleinlercher