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daimona aus dem koffer
eine literarische Kartografierung
Toni Kleinlercher, Daimona aus dem Koffer, Foto © T.K.
Toni Kleinlercher, Daimona aus dem Koffer, Foto © T.K.
daimona aus dem koffer, eine literarische kartografierung
konzeptuelle gedanken, ein gedicht
toni kleinlercher
Und vermissten Sie eine scheinbare Spannung nach scheinbaren Bedingungen der Wirklichkeit, so biete ich Ihnen dafür die wirkliche Spannung des Buches zur Wirklichkeit und gebe Ihnen Ihr Denken zu bedenken.(Paul Wühr, das falsche Buch, 1983)
ein literarisches gebiet abstecken
was hab ich gelesen zu jener zeit
im koffer versammelt
sowohl zeitfenster als auch auswahl
ein zufall
der beschleunigten entropie entrissen
dem schimmel als menetekel
im auflisten keinem ordnungsversuch erlegen
in der montage dem zufall nachgeholfen
die autorinnen alphabetisch gereiht
von links oben nach rechts unten
dieses vermeintliche strukturieren
ist kein ordnungsversuch
ist ein befreiungsunterfangen
ein aus der schlinge ziehen
sich ästhetisch zu verfangen
frei nach vergil aus lethes welle heiteres
nass schöpfen
den trunk des vergessens trinken
die erinnerung eine mächtige schleierwolke
ungetrübt durch alle vergangenheit
im gegenwärtigen verweilen
der literarische inhalt komprimiert
in der bandagierung des cover paintings
die erinnerung als spur im bild
eine verdichtung
das bildformat entspricht einem buchformat
im übertragenen sinn freilich
freilich hat jedes cover nun das gleiche maß
eine vereinheitlichung im blick auf das ganze
mit genauer betrachtung
ist im hinwenden zum einzelnen
jedes cover painting ein unikat
das zerfließen des semantischen gehalts
jedes einzelnen wortes
in den unterschiedlichen furchen gräben und mulden
der bandagierung zu erahnen
ist die reise zurück ein vorwärtsbewegen
stück für stück
den inhalt des koffers im metaphorischen sinn
an die wand projeziert
und alsbald dem fluss des vergessens dem wind
dem steten hauch des widerstands
den wogen der luft ausgesetzt
in den bücherwald eine schneise geschlagen
wieder war der zufall zu gast
den brüchen nichts entgegenzuhalten
den erinnerungslücken
sich dem fluss des vergessens ergeben
das gegenwärtige aus sich selbst erfahren
dieses wandern ist unkapriziös
hat das gedächtnis im gepäck
den schleier der erinnerung
der sich leicht und luftig anfühlt
sich verliert
Toni Kleinlercher, Daimona aus dem Koffer, Foto © T.K.
In PRIVAT VIEWING 07 antwortet Kleinlercher auf Leitners Zeitkapsel in grosser Gelassenheit mit einer eigenen Zeitkapsel. Praktischerweise ist das ein antiker Reisekoffer aus Kunstleder mit niedlichem Papierfutter im Inneren, in dem vom Künstler über Jahrzehnte sogenannte Bücher aufbewahrt wurden. 63 an der Zahl. Dieser Koffer ruht nun im Zeitalter der romantischen Selbstüberbelichtung, in dem die verlorenen Seelen in ihrer eigenen virtuellen Galerien eingesperrt sind, geduldig am Boden. Kleinlercher hat über den Koffer 63 Kopien von enthaltenen Titeln so elegant in einer strengen Reihung an der Wand arrangiert, dass man beinahe übersieht, wie er unsere Wahrnehmung hier manipuliert.
Die Buchtitel im Reiseutensil sind nicht gleich gross; das Bildformat entspricht nicht dem Buchformat. Die Bilder zeigen eigentlich auch keine Bücher, sondern nur die mehr oder weniger lauten Werbeumschläge der Werke. Dabei ist es Kleinlercher – im Unterschied zu Leitner – wichtig, bei der Anordnung der Bildtafeln gerade »keinem Ordnungsversuch zu erliegen«; die Auswahl folgt dem Zufall, die Titel hängen weder in alphabetischer noch in chronologischer Ordnung, weder nach Farben noch nach der Relevanz für ihren Besitzer gereiht. Die Erinnerungen an seine verflossenen Lektüren sollen frei von Strukturen flottieren können; die evozierten Inhalte kehren in verschiedenen Intensitäten zurück, fragmentarisch, bruchstückhaft, halbleserlich, wie von Ferne unter einem Schleier.
Jedes Leben endet ausnahmslos als Fragment, möchte man rufen. Ist das die Antwort auf Leitners anekdotische Selbstarchivierung? – Jede klassische Zeitkapsel ist ein Ordnungsversuch, der Gegenstände für unbekannten Adressaten zur Schau stellt, ein vergrabener Katalog des Wissens. Kleinlerchers »Coverpaintings« aber formuliert statt einem Katalog der Kofferbücher nur verschiedene Erinnerungsgrade an Lektüren und Besitztümer, die Arbeit eröffnet einen intensiven Assoziations- und Empfindungsraum, und die Empfindung läuft meiner Ansicht nach auf die »Intensitätsbeziehung« von Sachtrieb und Formtrieb hinaus, wie sie Friedrich Schiller in Über die ästhetische Erziehung des Menschen während der Französischen Revolution 1793 untersucht hat. – Das Höchste, was die Erinnerung leisten kann, besteht nach Schiller in einem Schwanken zwischen diesen beiden Prinzipien, Form und Sache, wobei auf Kleinlerchers Wand bald die Realität des Buches, bald die Form des Umschlags überwiegt.
Das führt mich zu der Frage, die mich in den letzten Jahren stark beschäftigt, ob die ästhetische Anschauung und Gestaltung selbst ein Denken ist oder ob sie das Denken bloss illustriert. Sind Kleinlerchers bandagierten Titel Allegorien auf ein verletztes Lesen? Sind sie der symbolische Verweis auf ein Geschehen oder geschieht in der visuellen Darstellung selbst etwas?
Anders gefragt: Ist Kunst ein Denkmodus? Ist die bildende Kunst nur eine »angewandte Philosophie«, die Dinge erspürt, welche dem Bewusstsein unzugänglich sind? Sind ästhetische Vorgänge eine Anrede an die Gemüter und Geister, ein blosses »Entwicklungsmoment des Geistes« (Hegel) oder »Vorstadien der Erkenntnis« (Oswald Wiener), also ein Trainingslager des Denkens? Muss der Intellekt heran gezogen werden, um Kunst aus ihrem Hintergrund heraus zu interpretieren? Liegt die Bedeutung der Kunst in einer Hinterwelt, die erst vom diskursiven Geist in seiner vollen Dimension erschlossen werden kann? – Oder handelt es sich bei den korrespondieren Zeitkapseln um Anstrengungen, in einem bestimmten Bereich eine Äquivalenz aller anderen Bereiche zu verwirklichen? Handelt es sich bei der Kunst um eine Form des universalisierten Denkens, in dem wir zuweilen echtes Wissen über den Gegenstand erlangen, ohne dazu verdammt zu sein, nach Maßgabe des Auges oder nach Maßgabe der Sprache allein abzuwägen?
Wie Leitner und Kleinlercher diese Frage mit ihren in das All geschossenen Botschaften praktisch beantworten, das können Sie, bevor die Rotationskreisel der Welt aus der Verankerung springen, in aller Ruhe im Atelier betrachten.
(Wolfgang Koch anlässlich der Ausstellung private viewing 07)
www.toni-kleinlercher.com