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ablichtungen, Installationsansicht, Schule für Dichtung, Wien 2024, Foto © Toni Kleinlercher

 


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ablichtungen, Installationsansicht, Schule für Dichtung, Wien 2024, Foto © Toni Kleinlercher

 

 
 
   
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ablichtungen, Xerografie, 20 cm x 20 cm, 2023





literarische frottage, in der Sprache der Inseln, 210 cm x 146 cm, 2022


Gisela Steinlechner zu Toni Kleinlerchers Ausstellung ablichtungen: (Auszug aus: Julian Schutting, In der Sprache der Inseln, 2024)

Nach dem Gedicht – so könnten wiederum die 68 Ablichtungen untertitelt sein, die der Künstler und Autor Toni Kleinlercher für die Neuauflage von in der Sprache der Inseln geschaffen hat. Er betrachtet Schuttings Gedichte wie aus weiter Ferne (als könne er deren Wörter nicht lesen), indem er sich ihnen mit der Ablichtungstechnik eines Kopierapparats annähert und dabei ausgerechnet von dessen Vergrößerungsfunktion ausgiebig Gebrauch macht. Dabei kommen die im Erstlingsband abgedruckten Texte nur mehr wie zufällig und fragmentiert ins Bild, sie rutschen über Seitenränder hinaus, Verse brechen an einer unsichtbaren Kante ab (imm / als / zwi / auf / sich / daß) oder geraten gar nicht mehr in den Blick. Dieser erfasst hier anderes: körnige, schimmernde, manchmal fleckige Texturen des Papiers, Bruchstücke des schwarzen Einbands, die aufgefächerten, einem Faltenwurf ähnelnden Schnittkanten der Buchseiten und die verschattete Zone dort, wo diese in einer sanften Rundung zum Falz hin abfallen. Mit dem mechanischen Auge des Kopierapparats schauen wir in den Raum des aufgeschlagenen Buchs hinein – nein, es ist kein Flachware – aus dessen „Gletscherspalten“ blitzen Buchstaben und Wörter herauf wie eine ferne Erinnerung daran, was ein Buch, was Schrift, was ein Vers ist (von der „Geisterstunde eines Gegenstandes“ ist in einem der Gedichte die Rede).

Mit den Ablichtungen hat Toni Kleinlercher eine weitere formale Variante seiner „literarischen Verdichtungen“ geschaffen, mittels derer er poetische Texte nach einer jeweils festgelegten ästhetischen Spielanleitung überschreibt, transformiert, ausliest und in letzter Konsequenz aufhebt. „was sonst kann die Aussage eines Gedichtes sein als die Nachricht, / daß alles, was ausgesagt werden wollte, / von dem Gedicht aufgebraucht worden ist“, heißt es korrespondierend dazu in Julian Schuttings zweitem Gedichtband Lichtungen (1976). In seiner Serie der Literarischen Frottagen führt der Künstler genau das aus: Für jedes einzelne Wort und jedes Satzzeichen eines Gedichtbandes zieht er auf einem an der Wand des Ateliers aufgehängten großen Papierbogen mit dem Bleistift einen waagrechten Strich von Rand zu Rand, wobei sich die palimpsestartige Struktur der darunter liegenden Wand ebenfalls in die Linienschrift einzeichnet. Die Zurücknahme der Wörter und ihrer Bedeutungen, ihr buchstäbliches und langwieriges Ausstreichen zu einer materiellen Spur, erschließt den Dichtungen eine neue Dimension: die des Nicht-mehr-Geschriebenen, in dem doch alles enthalten ist.

Das Motiv des Verschwindens, des Sich-Selbst-Aufhebens zieht sich als metaphorische Spur auch durch Schuttings Band in der Sprache der Inseln: „das Leuchten tritt in sich zurück / alle Zeichen werden ein Schweben / wir tauchen tief in die Dämmerung ein / was geschieht, ist ein Abbild im Spiegel“ (35/63). An anderer Stelle ist die Rede vom Gedicht als „Spiegelung in einem blinden Spiegel“ (11/15), oder als „das letzte einer Reihe sich bis ins Unendliche verkleinernder Bilder“ (10/14). Kleinlerchers Ablichtungen nehmen den umgekehrten Weg des Verschwindens, indem jede Textseite des Buches in verschiedenen Vergrößerungsstufen (bis zu 15 Mal) kopiert wurde. Aus den so entstandenen, quadratisch zugeschnittenen Rohfassungen hat der Künstler jeweils ein Blatt ausgewählt oder – falls kein zufriedenstellendes Ergebnis dabei war – die entsprechenden Kopien in drei gleich große Streifen geschnitten und aus diesen dann ein neues Blatt montiert. Die ausgewählten Versionen wurden schließlich eingescannt, geringfügig bearbeitet und auf das vorliegende Seitenformat verkleinert. Nur in die Blätter des letzten Abschnitts des Bandes hat der Künstler aus konzeptuellen Erwägungen heraus stärker eingegriffen, indem er die dort noch erhaltenen Textfragmente jeweils schwarz überbalkte.

Ganz offenkundig führen die Ablichtungen weg vom Entzifferbaren, sie zeigen, wie auch das Gedicht, auf sich selbst, auf ihre eigene Zeichenhaftigkeit und Gemachtheit. Und sie konfrontieren uns Leser*innen auf ungewohnte Weise mit der Materialität und Verfasstheit des Gegenstands Buch, und zwar dieses einen, konkreten Buchs, das noch 50 Jahre nach seinem Erscheinen im Otto Müller Verlag durch die Eleganz und sachliche Klarheit seiner Typografie und Ausstattung besticht. Konfrontiert sehen wir uns auch mit der Eigenlogik eines anderen Mediums, des Kopierapparats. Dieser ist nicht wählerisch, er „erkennt“ nichts und wertet nicht, folgt einzig seiner technischen Programmierung und physikalischen Gesetzen, indem er ablichtet, was man ihm auf die Glasplatte legt und was es daran an Hell und Dunkel zu unterscheiden gibt, um dieses dann mittels Toner und Wärme auf dem Papier zu fixieren. Xerografie heißt nichts anderes als trockenes Schreiben (nämlich ohne Entwicklerflüssigkeit), wobei sich das Licht synchron mit einem Band oder einer Trommel über die zu kopierende Vorlage bewegt. Wie immer man diese technischen Vorgänge erläutern mag, es geht dabei – da Licht involviert ist – wesentlich um Durchlässigkeit. Durchlässigkeit wiederum ist eine Voraussetzung der Schrift, um überhaupt lesbar zu sein. Würde man Buchstaben oder bedruckte Seiten übereinander schichten, ergäbe sich irgendwann ein undurchdringlicher Block, jenem schwarzen Quadrat nicht unähnlich, das der englische Philosoph und Hermetiker Robert Fludd im Jahr 1617 auf eine Seite seiner umfassenden Metaphysik druckte, an allen vier Enden versehen mit den Worten Et sic in infinitum –. Es sollte damit ein visuelles Zeichen gesetzt werden für das Nichts als uneinholbaren (und unvorstellbaren) Anfang der Schöpfung.

Bei Gedichten scheint über Anfang und Ende kein Zweifel zu herrschen (Julian Schutting beginnt die seinen im Übrigen mit Kleinbuchstaben und lässt sie ohne Punkt enden), doch was ist eigentlich mit all dem, „was beim Schreiben geschieht und dann doch nicht auf dem Papier erscheint“? Das fragte sich jüngst der ungarische Autor Péter Nádas in seinem Essay Schreiben als Beruf. Er widmet sich darin der „nicht geschriebene[n], im Text aber doch vorhandene[n] Arbeit“, die er „stumme Poetik“ nennt, all dem Erwogenen, Formulierten, Variierten, Verworfenen und Ersetzten, das auf dem Weg zum fertigen Text zurückbleibt und dennoch an ihm Teil hat. Ist nicht auch das Gedicht eine aus einem Meer von Möglichkeiten herausragende Spitze eines Eisbergs, der Lesbarkeit wegen eingefärbt mit Druckerschwärze – „eine vorläufig endgültige Variante“, wie es bei Péter Nádas heißt?

Dem vorläufig Endgültigen der Gedichte gesellt sich in deren Neuauflage nach 50 Jahren eine weitere Variante hinzu, indem der Künstler Toni Kleinlercher einen Kopierapparat den Band lesen und ins Trockene schreiben ließ. Die Reproduktionen brachten etwas zu Tage, was nicht gesucht wurde, was sich von selbst, zufällig, gleichsam „blind“ eingestellt hat. Wie wenn man mit dem Fernglas ein im Geäst eines Baums herumspringendes Eichhörnchen verfolgt und dabei Verwischtes und Unerwartetes einfängt: Ist das ein Stück Rinde, der Rand eines Vogelnests oder doch das braune Fell des flinken Tiers? Und die Gedichte? Auch sie sind am Sprung, erkunden in vielerlei Manövern den Raum, dessen Grenze sie selbst sind. „du kannst“ heißt es, „geometrische Figuren in Sternbilder heimführen / alltägliche Gegenstände in heilige Kapitel unterteilen […] das Einhorn eine Tangente an den Mond legen lassen / aus Wörtern Stufenlandschaften bauen“. (38/69)

Wie eine Tangente auf dem Weg zum Mond durchschneidet auf einer der Ablichtungen ein kräftiger schwarzer Schrägstrich das Quadrat der Buchseite. Es könnte die vergrößerte Schattenfuge des Falzes sein oder der Rand des Einbands, vielleicht auch nur ein technischer Schatten – es ist nicht so wichtig. Zusehends lassen die Ablichtungen im Buch solche „erkennungsdienstlichen“ Hinweise hinter sich, sie sind zwar weiterhin vorhanden und abrufbar, doch nun als formale Elemente eingebunden in den Rhythmus der Abstraktionen und Geometrien, die sich auf den Buchseiten „Wange an Wange“ (44/88) mit den Gedichten entfalten. Weiße und graue Felder, schwarze Blöcke, Linien, Überkreuzungen, Parallelen und Diagonalen, Dreiklänge, Schichten, Echos, Hell/Dunkel, Oben/Unten, eine Umrandung, Öffnungen, Stufenlandschaften. Aus Wörtern, ohne Worte.



Literaturhinweise:

Robert Fludd: Utriusque cosmi maioris scilicet et minoris Metaphysica, physica atque technica Historia, 2 Bde., Oppenheim, Frankfurt 1617

Péter Nádas: Schreiben als Beruf. Hamburg: Rowohlt 2022




Julian Schutting, in der Sprache der Inseln, Zeuys Verlag, 2023

© 2024 Toni Kleinlercher